Der Junge, der Gedanken lesen konnte

Kirsten Boie

Einband und Bilder von Regina Kehn

Oetinger, März 2012

320 Seiten, € 14,95

ab 10 Jahre

 

Inhalt:

Der 10 Jahre alte Valentin zieht in den Sommerferien in eine neue Wohnung, da seine Mutter zur Marktleiterin befördert wurde und sie nahe der Arbeitsstelle wohnen wollen. Die Mutter verdient nun mehr Geld und hat auch mehr Verantwortung, allerdings auch weniger Zeit für Valentin. Vor drei Jahren ist er mit ihr aus Kasachstan in Russland nach Deutschland gezogen und war froh, endlich Freunde gefunden zu haben, die er wegen des Umzugs wieder verlassen muss. Jetzt sind Sommerferien, die meisten Kinder weggefahren, seine Mutter muss arbeiten und Valentin sitzt alleine in der Wohnung, umgeben von unausgepackten Umzugskartons. Draußen ist herrliches Sommerwetter, daher erkundet Valentin die nähere Umgebung. Auf der Suche nach einer Leihbücherei stolpert er über Mesut, der mit seinem Handy lustlos vor dem Hauseingang sitzt. Eigentlich würde sich Valentin gerne mit dem türkischen Junge anfreunden, doch der versperrt ihm unfreundlich mit seinen Beinen den Weg, was Valentin erst einmal vorsichtig macht. Statt der Leihbücherei findet Valentin den Friedhof, auf dem er eine ganze Reihe neuer Bekanntschaften macht: Die Dicke Frau, den Friedhofsgärtner Bronislaw und den alten Herrn Schmidt. All diese Friedhofsbesucher treffen sich regelmäßig mit dem Ehepaar Schilinsky, die trotz brütender Hitze ihre Gäste stets mit einem fürstlichen Picknick begrüßen. Eigentlich wollten die Schilinskys einen Schrebergarten, doch dafür reichte das Geld nicht. Da sind die beiden auf die Idee gekommen, eine Grabstätte an einer wunderschönen Stelle zu kaufen und diesen Platz bereits zu Lebzeiten wie einen Schrebergarten zu nutzen: Mit Campingstühlen, Kühltasche, Kartoffelsalat, Frikadellen und Bier für alle, inklusive dem gemütlichen Plausch.

Hier erfährt Valentin, dass Bronislaw vor der Kapelle überfallen und der Dicken Frau ein Golddollar gestohlen wurde, den sie vor kurzem geerbt hat. Als Valentin wenig später Bronislaw erneut bewusstlos niedergeschlagen an der Kapelle findet, entschließt er sich, wie die Kinderbande aus seinen geliebten Detektivbüchern,  den oder die Verbrecher zu stellen. Eigentlich will er als Ein-Mann-Detektivbüro starten, als er und Mesut sich doch noch langsam anfreunden, ergeben die beiden ein dynamisches Duo, dass sich prima ergänzt, auch wenn es hin und wieder kleine Rangeleien gibt. Gemeinsam gehen Valentin und Mesut auf eine abenteuerliche und gefährliche Spurensuche nach den geheimnisvollen Überfällen und dem gestohlenen Dollar.

 

Rezension:

Ein Friedhofskrimi steht auf dem Cover. Das stimmt natürlich, doch die Geschichte ist vielmehr als das. Mit Valentin und Mesut gibt Kirsten Boie ihren Hauptprotagonisten eine Außenseiterrolle, die zwar irgendwie in Deutschland zu Hause sind, ihre Heimat aber in Russland oder in der Türkei haben. Sie müssen sich hier zurechtfinden, was mit Heimweh, Einsamkeit und auch Orientierungslosigkeit verbunden ist. Obwohl Valentin und Mesut einen ähnlichen Hintergrund haben, beide stammen aus anderen Ländern und haben in Deutschland ihr neues Zuhause gefunden, nähern sie sich nur zögernd und mit Skepsis an. Auch die anderen Figuren fallen durch ihre skurrilen Eigenheiten aus der „normalen“ Gesellschaft heraus, wobei jede auf ihre Weise liebenswert ist und sie allesamt aus dem Leben gegriffen sind. Die Charaktere haben facettenreiche Eigenschaften, die die Schattierungen eines Menschen zeigen. Der Tod und das Sterben sind die zentrale Themen, die sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehen. Die Idee, das Ehepaar Schilinsky als Ersatz für einen zu teuren Schrebergarten auf eine gekaufte Grabstätte zu setzen, ist so skurril wie erfrischend originell und lässt keine tränenrührige Stimmung aufkommen.

Valentin erzählt in Rückblicken vom Tod seines älteren Bruders und wie er zu Lebzeiten unter ihm gelitten hat. Als Valentin nach dem Tod so etwas wie Erleichterung verspürt, verbunden mit der Hoffnung, dass die Eltern nun ihm etwas mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen, schämt er sich und gerät in einen Gewissenskonflikt. Durch die Gespräche mit dem alten Herrn Schmidt, die berühren ohne rührselig zu sein, bekommt Valentin eine ganz neue Sichtweise zum Tod, dem Sterben und dem Leben an sich. Wunderbar auch der kurze Gedankenaustausch zwischen Valentin und Mesut während einer Beerdigung mit der Fragestellung, hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Religionen, wer von ihnen am besten beerdigt wird, um in den Himmel zu kommen.

Kirsten Boie verpackt die für uns Erwachsenen meist nicht einfachen Themen Tod, Sterben, aber auch Außenseiter unserer Gesellschaft, mit einer entwaffnenden, heiteren Leichtigkeit. Ihre klare und feinfühlige Sprache spricht Erwachsene genauso wie Kinder an und mit ihrem ganz eigenen, feinen Humor beschreibt die Autorin traurige und tragische Tatsachen natürlich, selbstverständlich zum Leben dazugehörend. Wie im Leben, wechseln sich in der spannenden Geschichte traurige mit heiteren Momenten ab. Eine herrlich schöne Idee ist die, Textabschnitte aus alten Schlagern in die Geschichte einzubauen, die auf den Punkt genau passen.

Dieses Buch ist deutlich mehr als ein fesselnder Friedhofskrimi. Es verbindet die zentralen Themen Sterben und Tod, Außenseiter mit einer heiteren, philosophischen Note, jedoch immer auf Augenhöhe eines Kindes. Dieses Buch hat die Berechtigung, ein „Klassiker“ zu werden und sich in die von Kästner, Lindgren und anderen einzureihen.

Kirsten Boie hat einmal den Wunsch geäußert, man möge die Geschichte so lesen, wie sie sie geschrieben hat: Einfach so.

Das habe ich „so“ gemacht, trotzdem ist sie alles andere als einfach so eine Geschichte. Sie bleibt nachhaltig in Erinnerung.

Die Illustrationen sind sicher Geschmackssache. Mit ihrer etwas merkwürdigen Farbe von schwarz-weiß-vergilbt wirken sie etwas kantig und haben mich nicht wirklich angesprochen. Das Cover ist wieder treffend gelungen.

Sabine Hoß

Bewertung:

 

Ein kurzes Interview mit Kirsten Boie zu diesem Roman findet Ihr hier:

 

 

 

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