Abgehauen

Grit Poppe

Dressler, August 2012

320 Seiten, € 9,95

ab 14 Jahre

 

 

 

DDR 1989: Das Mädchen Gonzo sitzt wegen ihrer Entweichungsversuche (Flucht) in dem Jugendwerkhof Torgau ein und soll zu einem „vollwertigen Mitglied der sozialistischen Gesellschaft“ umerzogen werden. Dazu ist den „Erziehern“ jedes Mittel recht und sie schrecken nicht vor Brutalität und grausamen Methoden zurück. Gonzo ist den willkürlichen Übergriffen hilflos ausgeliefert und versucht, nicht darunter zu zerbrechen. In ihrer Verzweiflung verletzt sie sich selber so schwer, dass sie in ein Krankenhaus eingeliefert werden muss. Ein Ort, der ihr für eine kurze Zeit Ruhe und Freundlichkeit entgegenbringt. Als Gonzo wieder in den Jugendwerkhof zurückgebracht werden soll, gelingt ihr die Flucht. Doch frei ist sie noch lange nicht, denn sie weiß, dass man nach ihr suchen wird. Immer wieder muss sie sich verstecken. In einer Kleingartenanlage lernt sie René kennen, der auch in den Westen abhauen will. Sein Vater lebt dort und hat ihn und seine Mutter zurückgelassen. René will nicht weiter in dem DDR-Regime leben und zu seinem Vater. Durch die Nachrichten weiß er, dass viele Ungarn-Urlauber nicht mehr in die DDR zurückkehren wollen und Asyl in der Prager Botschaft gefunden haben. Dorthin will René auch und gemeinsam machen die beiden sich auf den gefährlichen Weg über die grüne Grenze nach Prag. Nach vielen dramatischen Hindernissen gelingt es ihnen tatsächlich auf das Botschaftsgelände zu kommen. Doch noch immer ist das Wort „Freiheit“ nur eine blasse Hoffnung und eine lange Zeit der Ungewissheit unter unglaublichen Bedingungen steht ihnen bevor.

Rezension:

Mit „Weggesperrt“, Dressler 2009, hat Grit Poppe in diesem Thema bereits ein hervorragendes und mit dem „Gustav-Heinemann-Friedenspreis“ für Kinder- und Jugendbücher ausgezeichnete Buch geschrieben. „Abgehauen“ knüpft inhaltlich an die Grundgeschichte an. Auch hier stehen zunächst die erbarmungslosen „Erziehungs“methoden in dem geschlossenen Jugendwerkhof Torgau im Vordergrund. Doch nach Gonzos gelungener Flucht und dem Zusammentreffen mit René, der Weg über die grüne Grenze, der erfolgreiche Eintritt auf das Gelände der Prager Botschaft, ist die lange, zermürbende Zeit unter unhaltbaren Zuständen dort das Kernthema dieses Buches. Das zufällige Kennenlernen Renés in der Kleingartenanlage erscheint mir ein wenig zu gefällig und zufällig. Dieses Zusammentreffen bestimmt nämlich entscheidend die weitere Handlung. Wie wäre wohl Gonzos Flucht verlaufen, wäre sie allein geblieben? In einer ruhigen Sprache und linearen Erzählweise beschreibt Grit Poppe noch einmal sprachlos machend die unglaublichen, brutalen Erziehungsmethoden in dem Jugendwerkhof, die Folter und sexuelle Übergriffe nicht auslassen. Ebenso beeindruckend ist die zermürbende und ungewisse Zeit der DDR-Flüchtlinge in den Wochen ihres Asyls in der Prager Botschaft widergespiegelt. Trotz der freundlichen Art und Weise des Botschafters, so viel Platz wie möglich zu schaffen, sind sie Bedingungen der Asylsuchenden auf dem Gelände furchtbar. Man wird den Menschenmassen nicht gerecht, es gibt unzureichende sanitäre Anlagen und viel zu wenig Platz für Schlafplätze. Fruchtbare, dramatische Szenen am Zaun des Botschaftsgeländes, wenn neue Flüchtlinge nicht rüber können und der tcheschichen Miliz ausgeliefert sind, sind in diesem Ausmaß sicher kaum den Jugendlichen heute bekannt. Auch bei diesem Buch merkt man, dass die Handlung durch Gespräche mit Zeitzeugen und historisch belegten Tatsachen auf einer sorgfältigen und feinfühligen Recherche beruht. Obwohl Gonzos Geschichte fiktiv ist, sind ihre Erlebnisse es leider nicht. Was diese Jugendliche an Misshandlungen, Gewalt und Schikanen damals erlebt haben und durchleiden mussten, hat tiefe Narben auf ihrer Seele hinterlassen. Ängste, Zweifel, die auch heute, mittlerweile fast ein Vierteljahrhundert später, ihr Leben beeinflussen. Es macht aufmerksam, nicht leichtfertig über die Menschen in unserer Gesellschaft hinwegzugehen, die als Jugendliche mit einer grausamen Staatspädagogik gefügig gemacht wurden und heute noch unter diesen Folgen leiden.

Dieses Buch bewegt auch, weil es die Zu- und Umstände zeigt, in denen die Menschen in der DDR den zunächst sehr ungewissen, aber konsequenten Aufbruch aus einem diktatorischen System erkämpft und durchlebt haben.

„Abgehauen“ ist in vier Teilen aufgebaut, wobei nur der erste Teil in dem Jugendwerkhof Torgau spielt, und bezieht Figuren aus „Weggesperrt“ mit ein. So gibt es ein Wiedersehen mit Anja und geschickt werden die beiden Schicksale von Gonzo und Anja miteinander verknüpft. Trotzdem ist dieses Buch unabhängig von „Weggesperrt“ lesbar. Beide Bücher sind auf unterschiedliche Weise beeindruckend, hallen nach und zeigen, wie selbstverständlich wir heute manchmal mit (Meinungs-)Freiheit und Demokratie umgehen.

Sabine Hoß

Bewertung:

Ein Interview mit der Autorin findet Ihr hier:

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