Und auch so bitterkalt

Und auch so bitterkalt KLEIN

Lara Schützsack

Fischer, 20. Februar 2014

176 Seiten, € 14,99

ab 12 Jahre

 

 

 

 

Für die dreizehn Jahre Jahre alte Malina ist ihre vier Jahre ältere Schwester Lucinda das Größte und Wichtigste. Sie traut sich Sachen, die für Malina unvorstellbar sind und bewundert daher ihre Schwester sehr.

Lucinda fasziniert andere mit ihrer Schönheit und ihrem Charisma und ist in ihrem Tun kompromisslos, egoistisch und von eigenen Idealen besetzt. Gleichzeitig zeigt sie sich sensibel und träumerisch. Mit selbst erfundenen Geschichten entführt sie sich und Malina regelmässig in ihr Wunschland „Tenebrien“. Ein Land, das so unnahbar und fadenscheinig ist wie seine Erzählerin: „Tenebrien ist das Land, in das alle gehen, die nicht für unsere Welt gemacht sind. Die Dünnhäutigen, die Gläsernen, diejenigen, die zu viel wünschen, diejenigen, die zu viel gewagt und zu viel verloren haben.“

Isa, die Mutter der Beiden, will eigentlich nur das Beste für ihre Mädchen, ist aber eine herrschsüchtige Frau, die ihnen mit ihrer Dominanz kaum Freiheiten und Luft zum Atmen lässt. Selbst ihr Ehemann Frieder hat mit den Jahren aufgegeben gegen sie anzukommen und sich resigniert zurückgezogen. Lucinda spielt gerne mit den Gefühlen anderer und es ist ihr egal, ob sie dabei verletzt. Als der geheimnisvolle, dunkle Jarvis in ihre Straße zieht, verliebt sie sich in ihn und die Liebe wird erwidert. Aber auch mit Jarvis Gefühlen geht Lucinda fahrlässig um. Sie lebt nach eigenen, brutalen Regeln und wickelt auch ihn in ihre Machtspiele ein. Um sich gegen ihre Mutter durchzusetzen hat Lucinda beschlossen nichts mehr zu essen. Zunächst kann sie das noch unbemerkt tun, doch als die Mutter ihre Auflehnung bemerkt, weiß sie keinen anderen Rat als eine professionelle Familientherapie. Lucinda spielt die Rolle der folgsamen Tochter, doch weder Malina noch jemand anderem gelingt es, an Lucinda heranzukommen. Je weniger sie isst, desto unnahbarer wird sie. Lucinda scheint sich vor den Augen der anderen aufzulösen und alle können nur hilflos zusehen.

Magersucht ist schon vielfältig in der Jugendliteratur thematisiert worden. Doch selten so ambivalent und aufwühlend, weil so ganz anders als bisher dargestellt.                               Obwohl aus der Perspektive der dreizehnjährigen Malina die packende Familiengeschichte mit schillernden Figuren erzählt wird, ist ihre Schwester Lucinda die Hauptperson.  Die Sprache ist klar, reduziert und bisweilen nüchtern. Trotzdem entsteht in intensiven Bildern eine unheimlich dichte Atmosphäre, der man sich kaum mehr entziehen kann. Das liegt sicher auch an den Figuren, die mit Tiefe filigran gezeichnet sind. Außer der jungen Erzählerin Malina, die Lucianda bewundert und verzweifelt und hilflos zusehen muss, wie ihre Schwester zerfällt, wirkt keine der Personen wirklich sympathisch. Da ist Isa, die dominante, ruppige Mutter, die in ihrem Matriarchat nicht nur ihre beiden Töchter beherrscht, sondern auch ihren Ehemann zur Resignation und Zurückgezogenheit getrieben hat. Er ist froh, wenn alle ihn in Ruhe lassen und es keine Unruhe gibt. Jarvis ist ein geheimnisvoller, melancholischer junger Mann, der ebenfalls gegen seine Eltern nicht ankommt. Er ist auf seine Weise labil und sucht im Alkohol Trost und Halt. Man reibt sich an diesen Figuren, was nicht negativ zu bewerten ist, ganz im Gegenteil.

Lucinda leidet an Depressionen, was keiner in der Familie bemerkt, außer ihrer kleinen Schwester Malina. Lucindas Weg, sich gegen ihre Mutter mit Nahrungsentzug durchzusetzen, wird mit einer, von der Mutter initiierten, Familientherapie beantwortet. Die wird aber vor allem für sie unangenehm, denn hier wird Isa auch mit ihren Verhaltensweisen konfrontiert, womit sie nicht gerechnet hat. Lucinda spielt die Therapie mit, ohne sie wirklich ernst zu nehmen. Welche Folgen ihr Spiel mit haben kann, zeigt sich in der verhängnisvollen Beziehung zu Jarvis, der mit der wankelmütigen Unnahbarkeit von Lucinda nicht zurechtkommt. Ein Wesenszug, den man auch in ihrer Mutter findet und diese Ähnlichkeit ist nicht der einzige Grund, der die Beziehung belastet.

Es gelingt keinem, an die nach außen stabil wirkenden aber innerlich zerrütteten Lucinda heranzukommen; Malina muss erkennen, dass selbst die gemeinsame Liebe zur Musik keine Brücke zu ihrer Schwester aufbaut und sie sich immer mehr in ihre eigene Welt zurückzieht. Mit jedem Tag, an dem Lucinda hungert und Nahrung verweigert, wird sie blasser und ein Schatten ihrer selbst.

„Wie ein Stern. Manchmal fallen sie vom Himmel und verglühen. Einfach so.“

„Und auch so bitterkalt“ ist eine tiefgründige Familiengeschichte mit ambivalenten Figuren, an denen man sich reibt und die, ob man will oder nicht, einen Spiegel vorhalten. Intensive Bilder und eine aufgeladene emotionale Atmosphäre erscheinen in einer knappen und dennoch warmen Sprache, der man sich nicht mehr entziehen kann und lange nachhallt. Magersucht ist zwar das Kernthema der Geschichte um die Hauptperson Lucinda, die fragile Familienkonstellation steht aber im Focus.

Ein herausragendes Buch aus den Frühjahresnovitäten 2014 und ein beeindruckendes Debüt einer jungen Autorin, die man im Auge behalten sollte!

Es gibt mittlerweile wenige Bücher, die ich mehrmals lese; dieses gehört eindeutig dazu!

Das Cover, das einen „Drahtseilakt“ andeutet trifft den Inhalt punktgenau.

Sabine Hoß

Bewertung:

Ein Interview mit der Autorin findet Ihr hier:

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