Keiner zwischen uns

Carolin Hristev

Ueberreuter Verlag, 15.02.2021

224 Seiten, € 12,99

ab 12 Jahren

 

 

 

 

Nelson und Hamza, beide 15 Jahre alt, gehen gemeinsam in eine Klasse einer Hamburger Schule und sind seit der fünften Klasse beste Freunde, Blutsfreunde. Eines Tages kommen zwei Mädchen neu in ihre Klasse: Die blonde Marie, die vor der Trennung ihrer Eltern in einem anderen Stadtteil auf eine Privatschule gegangen ist und jetzt bei ihrer Mutter lebt und die streng gläubige, kopftuchtragende Barin, die vor einem Jahr mit ihren Eltern aus Afghanistan geflüchtet ist. Nelson, dessen verstorbener Vater aus Kamerun stammte und seine Mutter aus Deutschland kommt, verliebt sich auf Anhieb in Marie und ist hin und her gerissen zwischen seinen Gefühlen und der einzige, dem er sich anvertraut, ist sein bester Kumpel Hamza.

Eigentlich sollte die geplante Klassenfahrt in die Niederlande gehen, aber mit Rücksicht auf Barin, die Deutschland nicht verlassen darf, wird das nach Mecklenburg-Vorpommern verlegt – was mit entsprechendem Gestöhne und Widerstand der Jugendlichen aufgenommen wird. Hinzu kommt noch, dass die coole Klassenlehrerin Frau Häuser in Mutterschutz geht und dafür ein verklemmter, Anzug tragender Herr Zimmermann samt klackenden, glänzenden Lederschuhen ihre Vertretung übernimmt, was weder für die Klasse noch für ihn einfach wird.

Obwohl Nelson eigentlich überhaupt keine Lust auf diese Klassenfahrt hat, fährt er letztlich doch mit, da er hofft, hier näher an Marie heranzukommen. Schließlich sind die meisten Pärchen in den anderen Klassen eben auf diesen Fahrten zusammengekommen. Doch auch Marie findet zunächst keinen Grund, nach Meck-Pomm zu fahren. Gerade erst haben sich ihre Eltern getrennt und seitdem streitet sie sich ständig mit ihrer Mutter und hat keine Lust auf irgendwas. Dann ist ihre neue Klasse so ganz anders wie ihre frühere: Viel lauter, chaotischer, viel mehr Multi-Kulti. Nur mit Gülcan hat sich Marie ein wenig angefreundet und vor dem Klassendiktator Ibo hat auch sie Respekt.

Doch letztlich treffen sich alle am Bahnsteig bei Herrn Zimmermann und gemeinsam geht es mit dem Zug irgendwohin in die Pampa von Mecklenburg-Vorpommern, in ein Haus mit Selbstverpflegung. Neben drögen Ausflügen zeigt sich auf dieser Fahrt, wie stark der Zusammenhalt der Klasse ist – oder auch nicht, wie dominant sich der Klassenanführer Ibo aufspielen kann – und die Gemeinschaft ihn aufspielen lässt. Außerdem wird die bis dahin vermeintliche Blutsbruderfreundschaft zwischen Nelson und Hamza auf eine harte Probe gestellt, denn Nelson sieht eines Abends Marie eng umschlungen ausgerechnet mit Hamza. Nelson fühlt sich von Hamza verraten, und bevor er von ihm ein bis dahin streng behütetes Geheimnis erfährt, gibt es noch einen abenteuerlichen Roadtrip mit Marie zwischen Hamburg und Neustrelitz. Das Geheimnis, das Hamza Nelson offenbart, führt ein weiteres Mal zu einer Belastungsprobe ihrer Freundschaft. Wendet sich Nelson von seinem ehemals besten und engsten Kumpel ab oder steht er ihm bei, wie Hamza vor einigen Jahren ihm beigestanden hat?

Als ich den Klappentext des Buches gelesen habe, habe ich mich gefragt, warum der Verlag die Themen Rassismus und Homophobie so gar nicht darin andeutet? Wäre es ein Spoiler zu sagen, dass Hamza schwul und dass damit die Freundschaft zwischen ihm und Nelson gefährdet ist? Mir unverständlich, warum die Themen nicht annhähernd beschrieben werden und damit den Leser*innen einen Hinweis zur Geschichte gegeben wird. Das wird auch der Botschaft, die das Buch ja letztlich haben will, nicht gerecht.

Die Autorin präsentiert in ihrem ersten Roman eine erfrischend frech geschriebene Story über Werte von Freundschaft, erster Verliebtheit und der Tatsache, dass das Outing eines türkischen schwulen Jugendlichen in Multi-Kulti-Klassen für den Betroffenen eine noch größere Herausforderung mit noch drastischeren Konsequenzen mit sich zieht als in der westlichen Kultur.

Die Handlung wird abwechselnd aus der Ich-Perspektive von Nelson und Marie im Tonus der Jugendsprache erzählt, die für mich an einigen Stellen zu aufgesetzt wirkt; etwas weniger „Bro“, „Alter“ und „Digga“ hätten dem Jargon keinen Abbruch getan. Dieses „too much“ an übernommener Jugendsprache ist schade, denn so nimmt die Autorin sich und hauptsächlich ihren beiden Figuren Nelson und Marie die Möglichkeit, jeweils mit einer eigenen inneren Stimme zu erzählen.

Trotzdem hat die Autorin Carolin Hristev ein gutes Gespür und Empathie, sich in die chaotische Gedanken- und Gefühlswelt der beiden hineinzuversetzen und dies zu transportieren. Mit Nelson beschreibt sie auf eine lockere Weise, die Verzweiflung und Ängste, unter der er als Farbiger seit seiner Kindheit durch offen gezeigten Rassismus von anderen Kindern und Jugendlichen, selbst von denen mit Migrationshintergrund (oder Vordergrund 😉?) leiden muss. Nelson musste sich in einer „ganz normalen“ Klasse, in der der Multi-Kulti-Anteil die Mehrheit hat, gegen den brutalen und grausamen türkischen Klassen-Diktator Ibo behaupten. Erst durch Hamza, der ihn in der fünften Klasse gegen Ibo verteidigt hat, haben sich die beiden Respekt in der Gemeinschaft verschafft und sind enge Blutsbrüder geworden. Diesen hart erkämpften Respekt sieht Nelson in Gefahr, als Hamza ihm ein bis dahin streng gehütetes Geheimnis offenbart. Nachdem Nelson klar wird, dass Marie nie etwas von Hamza wollte, weil auch sie sich in ihn verliebt hat, muss er Stellung zu seiner Freundschaft zu Hamza nehmen. Er muss entscheiden, wie wichtig und bedeutend für ihn diese ist und ob er sein Gesicht verliert, wenn er zu ihm steht, nur weil er schwul ist. Dieses Ringen mit sich selbst, sein nicht-verstehen können und nicht akzeptieren wollen, beschreibt Carolin Hristev nachvollziehbar. Ebenso eindrücklich die Unterrichtssituation in Nelsons Klasse, als die Lehrerin über Homosexualität spricht, mit dem Hintergrund von Toleranz und Akzeptanz und ihr von den Jugendlichen nahezu blanker Hass gegenüber Schwulen und Lesben entgegen schlägt.

Leider bedient sich die Autorin an anderen Stellen, vielleicht auch unbeabsichtigt, Klischees (Nazi-Plakate in Meck-Pomm, die Abbildung des Lehrers Zimmermann), bei denen sie auch den moralischen Finger erhebt, beispielsweise als Maries Vater ihr sagt: „Von diesen Afrikanern solltest Du Abstand halten.“ Das ist bedauerlich, weil die Atmosphäre und Aussage der Story diese aufgesetzten Bilder nicht nötig hat. Der temporeiche Roadtrip von Nelson und Marie ist zwar amüsant zu lesen, doch ich hätte mir mehr Tiefe von der Figur Hamzas gewünscht, die sich leider durch die Nebenschauplätze verliert.

Zum Schluss versucht die Autorin noch eben mal schnell die Problematik der Abschiebungen von Jugendlichen (und ihren Eltern) aufzugreifen und löst sie gleichzeitig in einem Atemzug mit einem kurzen Medienbeitrag auf. Dieses Thema so anzureißen ist mir zu flach und ich hatte den Eindruck, dass sie versucht, so viele Missstände und Probleme wie möglich in der Migranten-Thematik hier einzubinden. Doch weniger ist bekanntlich mehr und die Geschichte wäre tiefgründiger und hilfreicher geworden, wenn die Autorin im Thema zwischen Nelson und Hamza geblieben wäre oder erzählt hätte, wie Hamza sich mit seinem Outing auch gegenüber seinem Vater und seiner Familie behauptet.

Was bleibt hinter der Freundschaftsgeschichte und schwierigem Outing eines schwulen türkischen Jungen?

Hinter einem Multi-Kulti-Hintergrund bettet Carolin Hristev eine spannende, temporeiche und leicht zu lesende Geschichte ein, in der es um Werte von Freundschaft geht, dem Respekt und der Toleranz gegenüber dem Anderssein, egal, welche Hautfarbe man hat, zu welcher Kultur man gehört und egal, wen man liebt. Wobei weniger von Nebenschauplätzen und mehr Tiefe in der Ausarbeitung der Grundthematik und Figuren mehr gewesen wäre.

Sabine Wagner

 

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