Paradiessucher

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Rena Dumont

Hanser, Januar 2013

304 Seiten, € 14,90

ab 14 Jahre

 

 

 

Inhalt:

1986, Přerov, eine kleine Stadt mitten in der Tschechoslowakei. Die siebzehnjährige Lenka lebt mit ihrer Mutter alleine. Die Mutter arbeitet hart als Friseurin im besten Haus der Stadt, für Lenka bleibt wenig Zeit. Der Vater hat bereits vor langer Zeit die Familie verlassen und Lenka hat keinen Kontakt zu ihm. Zu ihren Großeltern mütterlicherseits hat sie dagegen ein herzliches Verhältnis, da sie viele Jahre von ihnen großgezogen wurde. Als eines Tages der langersehnte Umschlag mit dem Visum für einen zweiwöchigen Urlaubsaufenthalt in Deutschland eintrifft, ist Lenka aus dem Häuschen. Endlich können sie und ihre Mutter nach Deutschland reisen, nicht nur um Urlaub dort zu machen, sondern um dazubleiben und Asyl zu beantragen. Außerdem will Lenka dort ihren Traum verwirklichen, auf eine Schauspielschule zu gehen. Ein Traum, der ihr in der Tschechoslowakei verwehrt wird. Nicht aus Gründen mangelnden Talents, sondern weil sie nicht dem politischen Konzept entspricht und wichtige Kontakte fehlen. Während die Mutter noch zögerlich ist, freut sich Lenka darauf, die Tschechoslowakei mit all ihren wirtschaftlichen Hindernissen hinter sich zu lassen. In Deutschland angekommen, suchen Mutter und Tochter Zuflucht in dem Asylantenlager Königssee. Das ehemalige Sporthotel ist nun eine heruntergekommene Aufenthaltsstätte für Asylsuchende verschiedener Nationen: Polen, Russland, Jugoslawien, Tschechien. Dieser Schmelztiegel, in dem auf engstem Raum Menschen mit der einzigen Hoffnung zusammenleben, in Deutschland bleiben zu dürfen, ist auch ein Platz für viele merkwürdige und zwielichtige Gestalten. Manche warten schon Monatelang, andere haben kein schlechtes Gewissen, dass, was ihnen fehlt zu klauen, auch wenn ihnen die Ausweisung gewiss ist, wenn sie erwischt werden. Kein Platz, um schönen Träumen nachzuhängen, das stellt Lenka schnell fest. Weder sie noch ihre Mutter sprechen oder verstehen Deutsch. Eine lange Zeit des Wartens mit ungewissem Ausgang stehen ihnen bevor. Asyl, Duldung oder Abschiebung, das sind die Alternativen. Lenka gelingt es mit viel Selbstbewusstsein und eisernem Willen, dass sie als Gasthörerin auf ein Gymnasium gehen darf. Eines Tages soll Lenka sich in Zirndorf melden, wo die zentrale Stelle für Asylangelegenheiten ist. Ihre Mutter hat keine Einladung bekommen. Doch Lenka will nur gemeinsam mit ihrer Mutter in Deutschland neu anfangen. Mit Raffinesse, eisernem Willen und gnadenloser Ehrlichkeit versucht sie, die Gründe für ihre Emigration zu erklären. Mutter und Tochter wissen, selbst wenn ihnen beide Asyl in Deutschland gewährt wird, ist es noch ein langer Weg, dort anzukommen und dieses Land als das neue Paradies zu sehen.

Rezension:

1969 wurde Rena Dumont als Rena Zednikova im mährischen Städtchen Prostějov geboren und flüchtete mit siebzehn Jahren gemeinsam mit ihrer Mutter nach Deutschland. Wie ihre Romanfigur verbrachte sie acht lange Monate in dem Asylbewerberheim Königssee. Nachdem sicher war, dass sie in Deutschland bleiben durften, zog Rena Dumont nach München. Bevor sie vier Jahre später zum Schauspielstudium nach Hannover ging, verdiente sie ihr Geld mit zahlreichen Jobs. Seit 1995 arbeitet sie als Schauspielerin auf verschiedenen deutschsprachigen Bühnen wie auch bei Film- und Fernsehproduktionen. Rena Dumont verpackt in ihrem fiktiven Roman einen Teil ihrer eigenen Lebensgeschichte und ein Stück jüngster Zeitgeschichte. In einer lebendigen, manchmal leicht herb-schnodderigen Sprache erzählt Lenka von ihrem Leben in der Tschechoslowakei und der großen Hoffnung in Deutschland, frei von allen Zwängen und politischen Beobachtungen, ein neues Leben beginnen zu können. Lenka ist eine junge Frau, die man auf Anhieb mag. Sie sieht ihre Welt mit offenen Augen und schaut dabei über den Tellerrand hinaus. Eindrucksvoll beschreibt sie das gleichförmige und politisch reglementierte Leben in ihrer sozialistischen Heimat. Unvorstellbar für uns, die unbändige Freude, nur über das Zahlungsmittel bony an Besonderheiten wie ein Päckchen Bubble Gum mit Cola-Geschmack oder Fa-Seife zu kommen. Oder sich daran zu gewöhnen, dass beispielsweise Toilettenpapier nicht selbstverständlich immer erhältlich ist. Doch noch schlimmer sind andere Einschränkungen, z.B. wenn man nicht die nötigen Kontakte hat oder wegen der Begeisterung für einen amerikanischen Schriftsteller ausgeschlossen und diskriminiert wird. Eindrucksvoll erleben wir eine Zeit im Asylantenlager, dass mit Warten, Hoffen und Bangen gefüllt ist. Obwohl die Erzählweise manchmal fast nüchtern erscheint, berührt sie trotzdem. Man kann nur erahnen, wie schwer esLenkas Mutter gefallen ist, nach 39 Jahren ihre Heimat und Familie hinter sich zu lassen und nicht zu wissen, ob und wann sie sie jemals wiedersehen wird. Sie muss mit den Schuldgefühlen fertig werden, die ihr von ihrer Familie daheim erteilt werden. Mit interessant eingeflochtenen Rückblenden verbindet die Autorin vergangene Erlebnisse aus der tschechischen Heimat und die aktuelle brodelnde Situation Mitte der Achtziger Jahre in Deutschland.

Rena Dumont beschreibt das kunterbunte Zusammenleben verschiedener Nationen und kurioser Charaktere auf engstem Raum lebendig und lässt am Rande das Asylantenheim in Königssee sogar wie ein Zuhause erscheinen. Wer hier aber Heimatromantik erwartet, der wird zu Recht enttäuscht. Zu sehr dominiert die endlose und verzehrende Warterei  mit ungewissem Ausgang. Auch Lenka hadert mit dem Heimweh, sehnt sich nach ihrer ersten großen Liebe Pavel. Trotzdem ist sie fest entschlossen, ihren Traum Schauspielerin zu werden, in Deutschland umzusetzen. Dafür nimmt sie allen Mut zusammen und bittet einen Beamten im unaussprechlichen Landratsamt, als Gasthörerin den Unterricht im Gymnasium zu besuchen. Damit wird für Lenka vieles einfacher, denn sie lernt die deutsche Sprache, die notwendige Basis für eine spätere Schauspielausbildung.

„Paradiessucher“ ist ein beeindruckender, komplexer Roman und ein überzeugendes Debüt als Autorin von Rena Dumont. Man merkt diesem Buch an, dass es nicht nur „irgendein“ Stück Zeitgeschichte ist, sondern ein sehr persönliches – auch wenn die Handlung natürlich fiktiv ist. Obwohl das Erlebte knapp 30 Jahre zurück liegt, erscheint es lebendig und authentisch. Auch wenn ich der gleichen Generation wie die Autorin angehöre, hat man damals vieles im Westen so nicht mitbekommen und manches bleibt unvorstellbar. Nüchtern und trotzdem berührend, witzig und manchmal kühl erlebt man die nervenaufreibende Zeit eines Aufbruchs in ein anderes Leben – ohne zunächst die Gewissheit zu haben, ob man überhaupt auf der Paradiesseite bleiben darf. Chapeau an die Autorin, die mit siebzehn Jahren nach Deutschland kam, weder ein Wort Deutsch sprechen noch schreiben konnte und heute erfolgreiche Schauspielerin und Schriftstellerin ist.

Im Nachtrag noch ein kurzes Wort zum Cover: Mit dem minimalistischen Foto des vorbeifahrenden Trabis (?) und der im Hintergrund dahinziehenden, verwischten Landschaft ist stimmig die Atmosphäre des Aufbruchs eingefangen. Als „Eyecatcher“ wirkt der in Sternen gesetzte Titel, wobei sich diese nette Idee im Buch wiederholt, da der erste Buchstabe eines neuen Kapitels wiederum in einem Stern gesetzt ist.

Sabine Hoß

Bewertung:

Ein Interview mit der Autorin findet Ihr hier:

 

 

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