Der kürzeste Tag des Jahres

Der kürzeste Tag des Jahres KLEIN

Ursula Dubosarsky

Aus dem Englischen von Andreas Steinhöfel

Ueberreuter, Juli 2013

160 Seiten, € 12,95

ab 14 Jahre („all age“)

 

 

 

Es liegt eine eigenartige melancholische Atmosphäre über dieser Familiengeschichte, die  von der ersten bis zur letzten Zeile fasziniert. Eine Familiengeschichte, in der vieles nur angesprochen, selten aber ausgesprochen wird. Eine Familie, die etwas bizarr wirkt. Da ist der Opernsänger Elkanah, der als jovialer Bühnencharmeur diese Rolle auch im Privatleben nur schwer ablegen kann, wo er unzuverlässig und unüberlegt agiert. Aus seiner ersten Ehe mit Pearl hat er bereits drei Töchter und obwohl er angeblich seit fünf Jahren glücklich mit Hannah verheiratet ist, bekommt er eine vierte Tochter mit Pearl: Theodora. Da Pearl in Melbourne lebt und als Alleinerziehende mit den drei Töchtern schon völlig überfordert ist, nimmt Elkanah kurzerhand Theodora mit nach Sydney, wo er mit Hannah lebt. Die ist zunächst alles andere als angetan von der Vorstellung, ein fremdes Kind großzuziehen. Mit einem eigenen Kind scheint es aber nicht zu klappen und so tröstet sie sich langsam mit Theodora. Kurze Zeit später bekommt sie zur großen Freude und Überraschung ein eigenes Kind mit Elkanah: Samuel.

Obwohl Hannah als Psychiaterin viele Leute kennen lernt, ist sie oft alleine, da ihr Mann für seine Engagements um die Welt reist. Als sie durch Theodora bei einem Einkauf Randolph Butcher kennenlernt, entwickelt sich diese Zufallsbekanntschaft zu einer engen aber platonischen Freundschaft. Das sieht Theodora allerdings etwas anders, die alles, was sie erlebt und sieht schon fast zwanghaft ununterbrochen in vielen Notizheften festhält. Sie vermutet, dass Randolph mehr als nur ein guter Bekannter für ihre Stiefmutter ist. Auch Elkanah ist eifersüchtig und glaubt mit einem Engagement in Philadelphia die ausreichende Distanz zu erreichen, um dieser vermutenden  Romanze keine weitere Chance zu geben. Mit dieser Idee überrascht er seine Familie, als Samuel kurz vor seinem zwölften Geburtstag steht. Dieser Tag ist für ihn etwas ganz besonders, da auch sein Großvater Elias, der Vater seiner Mutter, an diesem Tag ein Jahr älter wird. Samuel liebt seinen Großvater über alles und diese Liebe wird ebenso erwidert, auch wenn sich der Großvater bemüht, beide Enkelkinder gleich lieb zu haben. Aber Samuel ist ihm ein Stück näher, vielleicht, weil der Junge sich immer hinter seiner Schwester zurückgesetzt fühlt und er ihm in vielem ähnelt.

Während die anderen Familienmitglieder sich nach dem ersten Schock an den Gedanken gewöhnt haben, nach Amerika zu ziehen, hadert Samuel sehr schwer mit dieser Entscheidung. Er will nicht weg von Sydney, wo er alles hat, was ihm lieb ist – vor allem seinen Großvater. In dieser Familie wird nicht viel über die wirklich wichtigen Dinge und Angelegenheiten gesprochen, das meiste wird nur angerissen und viel lieber noch verdrängt. So bleibt lange offen, wann sie endlich nach Philadelphia ziehen und wie das organisatorisch ablaufen soll, da Elkanah immer wieder in seiner lässigen, unzuverlässigen Art behauptet, es wird sich alles finden. Großvater Elias kommt wie sein Enkel Samuel nicht dem Gedanken an einen Umzug ins ferne Amerika zurecht. Seine Flucht aus dem Nazideutschland ist ihm noch lebhaft in Erinnerung und so weiß er, was eine Zwangsverschickung bedeutet, wie ihm der Umzug für Samuel erscheint. An ihrem gemeinsamen Geburtstag entschließt sich Elias zu einem ganz besonderen und folgenreichen Geburtstagsgeschenk, das Samuel fast das Leben kostet.

Ursula Duborsarsky ist in einer klaren und doch poetischen Sprache ein fein geschliffenes Familienbild gelungen, dass in Teilen exzentrisch erscheint und gerade deshalb so lebendig. Man fühlt die Verzweiflung und den vermeintlich guten Willen des Großvaters wie die Angst und das Gefühl des immerwährenden Zweiten von Samuel. Hannah, die als Psychiaterin ihren Mann eigentlich besser kennen sollte und doch von ihm gelenkt und dominiert wird. Elkanah, der ein wenig klischeebesetzt den strahlenden Pfau als Opernsänger und präsentiert, dabei privat recht uncharmant bis unsympathisch erscheint und die 14-jährige Theodora, die exzentrisch alles aufschreibt und altklug zu allem eine Meinung hat. Der Autorin ist ein sehr tiefgründiger Roman gelungen, in dem es um Abgründe, Missverständnisse geht, die aus unausgesprochenen und falsch gedeuteten Begebenheiten entstehen. Und obwohl Ursula Duborsarsky eine extravagante Familienaufstellung gewählt hat, überdeckt dies nicht die in vielen Familien zu beobachtenden und wiedererkennbaren Tatsache, dass Situationen und Begebenheiten, die besser offen und klar besprochen würden, lieber unter den Tisch gefallen lassen und verdrängt werden.

Eine facettenreiche Familiengeschichte für Leser ab 14 Jahre und natürlich auch für Erwachsene.

Ursula Duborsarsky, Jahrgang 1961, gilt als eine der talentiertesten Schriftstellerinen Australiens und lebt mit ihrer Familie in Sydney. In Deutschland hat sie sich bereits mit „Nicht jetzt, niemals“ (Ueberreuter, 2012) einen Namen gemacht. Mit diesem Buch zeigt sie erneut ihre Begabung, das von Andreas Steinhöfel in einer schönen,poetischen und eindringlichen Sprache übersetzt wurde.

Das Cover passt mit Foto, Schrift und Titel harmonisch zum Inhalt.

Sabine Hoß

Bewertung:

 

 

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