Mit anderen Worten: ich

Tamara Ireland Stone

Aus dem Englischen von Sandra Knuffinke und Jessika Komina

magellan, Januar 2016

336 Seiten, e 16,95

ab 14 Jahren

 

 

In letzter Zeit ist es in der Jugendliteratur Mode geworden, verschiedene Krankheiten thematisch zu behandeln. Das kann hilfreich sein, wenn es klug und originell mit besonderer Handlung verpackt ist, wie z.B. bei John Green „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ oder Raquel J. Palacio „Wunder“ oder Anthony MacCarten „Superhero“. Doch wie immer, wenn ein Thema bei Verlagen als Mainstream angekommen ist, gibt es leider auch einige schwarze Löcher, die weder hilfreich noch klug und originell in irgendeiner Weise sind.

Sam leidet an einer Zwangserkrankung. Ihre Gedanken ruhen nicht und drehen sich ständig wie ein Karussell in ihrem Kopf. Nur mit Schlafmitteln findet sie nachts ein wenig Ruhe und um die Zahl drei dreht sich alles in ihrem täglichen Leben. So muss es bei ihrem täglichen Schwimmtraining immer die Bahn Nummer drei sein, denn sie ist eine ausgezeichnete Schwimmerin und so gut, dass sie guter Dinge sein kann, mit ihren Leistungen ein Stipendium für ein College zu erhalten. Beim Schwimmen kann sie auch ihre Gedanken ein wenig zur Ruhe kommen lassen, was ihr sonst nur schwer gelingt. Musik ist ihr dabei eine weitere Stütze. Für jede Stimmung hat sie eine eigene Playlist angelegt, der Titel ist immer mit drei Wörtern aus einem Song gebildet, der die gesamte Playlist widerspiegelt. Seit fünf Jahren arbeitet Sam einmal wöchentlich mit ihrer Therapeuthin Sue zusammen, die sich wiederum eng mit ihren Eltern austauscht. In jeder Sitzung sprechen sie über die „Verrückten Acht“, eine Mädchen-Clique von Sam, die sich schon seit dem Kindergarten kennen, die sich aber im Laufe der Zeit aus verschiedenen Gründen halbiert hat. Diese Clique ist sehr wichtig für Sam, da sie aus den angesagtesten Mädchen ihrer Stufe und Schule bestehen und sie natürlich gerne dazu gehören will – auch wenn sie merkt, dass die Mädchen ihr nicht immer gut tun und sie nichts von ihrer Krankheit wissen (dürfen). Nach einer katastrophalen Geburtstagsfeier mit einer dieser „In-Freundinnen“ geht Sam etwas auf Abstand und komm in der Schule mit Caroline ins Gespräch, einem Mädchen, die sie bisher dort noch nie wahrgenommen hat. Caroline nimmt sie mit zu einem gut versteckten Raum, in dem sich heimlich Schulkameraden treffen und sich selbst geschriebene Gedichte vorlesen. Sam taucht in diesem Dichterclub in eine völlig neue Welt ein. Zaghaft versucht sie, ihre Gedanken in Worte aufs Papier zu bringen und braucht viel Mut, um sie dann auch vorzutragen. Ihre neue Freundin Caroline ermuntert sie dabei. Mit der Sprache, der Macht und Kunst der Worte lernt sie sich selber kennen und sich anzunehmen, auch wenn es ein langwieriger und denkbar schwieriger Prozess ist. In der Dichterecke trifft sie auch auf AJ, einen Jungen, der wunderbare Songs auf seiner Gitarre vorträgt. Sam glaubt ihn zu kennen, weiß aber nicht, woher. Als die Freundinnen aus ihrer „Acht-Clique“ sie bei einem Gespräch beobachten, wundern sie sich darüber. Sie klären Sam auf, dass sie diesen Jungen vor einigen Jahren übel gemobbt haben, weil er stotterte. Sam schämt sich so sehr und bewundert gleichzeitig AJ, dass er zulässt, dass sie zu den Treffen in der Dichterclub kommen darf. Die beiden nähern sich langsam aber stetig und es entwickelt sich eine ganz besondere Liebe zwischen den beiden. Gleichzeitig entfernt sie sich immer mehr von ihrer alten Mädchen-Clique, was ihr einerseits nicht schadet, andererseits weiß sie nicht, ob sie den Mut hat, diese Trennung wirklich durchzuführen. Sam hat zwar durch die regelmäßigen Treffen in der Dichterecke und dem Austausch von sehr persönlichen Gedanken und Gedichten mit ihren neuen, ihr guttuenden Freunden ein Stück weit sich selbst kennen- und anzunehmen gelernt, aber sie hat noch nicht den Mut gehabt, ihre Krankheit auch offen AJ zuzugeben. Das führt an einem bestimmten Punkt dazu, dass ihre Liebe auf eine Bewährungsprobe gestellt wird.

„Sam ist ein authentisches und sympathisches Mädchen, die als Ich-Erzählerin mit einer beeindruckenden Offenheit Einblick in ihr zwanghaftes Gedankenkarussell gewährt. Wie gerne würde sie sich davon lösen und hält sich im Vergleich mit anderen für verrückt, worunter sie leidet und sich immer wieder zurückzieht. Auch wenn ihre Freundinnen „Die verrückten Acht“ eine typisch amerikanische Schul-Clique mit reichen Eltern präsentiert, ist das Gott sei Dank das einzige typische amerikanische Merkmal in dieser Story.Tamara Ireland Stone hat eine klug aufgebaute und feinsinnige Entwicklungsgeschichte über Sam geschrieben, die mit Wendungen überrascht, dabei aber wirklichkeitsnah bleibt.

Die langsam und für beide Seiten nicht einfache Liebesbeziehung zwischen AJ und Sam entfaltet sich mit viel Sensibilität und Warmherzigkeit, die fern von Kitsch ist. Von daher ist es ein Buch, dass auch Jungs, ohne seufzendes Augenrollen und der Gefahr, eine Schmonzette vor sich zu haben, mit Genuss lesen können.

Mit anderen Worten: ich“ gehört nicht zu den Eingangs beschriebenen „schwarzen Löchern“, sondern zu den besonderen Büchern, die lange im Gedächtnis bleiben, weil sie eine psychische Störung mit all ihren kleineren und größeren auswirkenden Nebenerscheinungen offen, unverkrampft widerspiegelt und die auch heilende Wirkung der Worte und Sprache in Verbindung eines wunderbaren Dichterclubs präsentiert.

Dieses Buch hat vor kurzem den Jugendliteraturpreis „Buxtehuder Bullen“ gewonnen und ist von der Jugendjury auf die Nominierungsliste zum diesjährigen Deutschen Jugendliteraturpreis gesetzt worden, der am 13. Oktober vergeben wird.

Das bewährte Übersetzerteam Knuffinke/Komina hat den Roman hervorragend übersetzt.

Das Cover mit einer alten Schreibmaschine, der endlosen Papierschleife mit dem kurzen aber so treffenden Titel ist unauffällig und doch so passend.

Sabine Hoß

Bewertung:

 

 

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